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Die fünf Schauspieler Bernhard Bauer, Sonja Baum, Karin Kettling, Karin Moog und Tobias van Dieken schauen fast ein wenig ungläubig, als sie vom Publikum der Uraufführung mit sehr langem warmen Applaus für ihre fast zweistündige Seminarperformance gefeiert werden. Auch als das komplette Regieteam die Bühne betritt ebbt dieser sehr wohlwollende Applaus keineswegs ab. Und das sieht der Rezensent genauso, denn wer einen unterhaltsamen Diskurs zum Thema Coachingtendenz und Coachingwahn à la Top Dogs erwartet hatte, der wurde abgesehen von einigen komisch-unterhaltsamen Momenten eigentlich recht angenehm enttäuscht. Die hohe Intensität des Abends war sowohl der großen Qualität aller Schauspieler geschuldet, als auch der Tatsache, dass die beiden Leiter des Projekts dieses Stück mit den Schauspielern sehr eng und gemeinsam entwickelt hatten, wie den Foyergesprächen zu entnehmen war. Vielleicht lag es auch daran, dass womöglich, wie in solchen Projekten meist üblich, bis zum Schluss an der endgültigen Form gefeilt wurde.

Herausgekommen ist eine sehr stringente Szenenfolge, die nicht nur dramaturgisch konsequent vorangetrieben wird, so dass keine Leerlaufmomente zu bedauern waren, sondern ein sehr spannender Theaterabend entstanden ist, der vor allem dank seiner Darsteller sehr verfolgenswerte Geschichten erzählte und das Kunststück fertig brachte, diese fünf Personen einander begegnen und interagieren zu lassen, ohne dass ein einziger Name fiel.

Zu spät! Zu spät! Zu spät!

Das ist der erste und der letzte Eindruck des Abends, da treffen nicht nur Coaches und Menschen aufeinander, die sich zwar kennenlernen, aber vor allem in die eigene Ich-Falle geraten, als an ihrem Seminarort der vorgesehene Dozent nicht auftaucht, ein Ort, der einem Film von Lars von Trier oder einem Krimi von Agatha Christie entsprungen sein könnte, einsam, ohne Ablenkungsmöglichkeiten, im Wald, und nach kurzer Zeit auch vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten, so ambivalent durch die Geschichten der handelnden Figuren und sehr eindrucksvolle Kunstvideos von Freya Hattenberger ,beleuchtet‘, so dass nie auszuschließen ist, dass es sich um eine Phantasie der Handelnden handeln könnte.

Ausgangspunkt der Produktion war ein Coachingseminar, das die Schauspieler am eigenen Leib erfahren haben, und so ist wohl die eigene Lebensgeschichte genauso zum Material geronnen, wie Recherchiertes und Angelesenes, wobei wohl diese Nähe zum eigenen Ich diese ganz starke Präsenz und Wirkung erzielt, zusätzlich durch die Direktheit und Nähe eines Studiotheaters verstärkt, schwierig zu beschreiben, da Figuren ohne Namen etwas von ihrer Beschreibbarkeit verlieren.

Zu spät! Zu spät! Zu spät!

Ein Mann tritt auf, er ist mit seinem Handy beschäftigt. Er hat keinen Empfang und die selbstgewählte Rolle des Erfahrenen und Überlegenen gerät schnell ins Wanken, als er der Geschäftsfrau im Kostüm begegnet, die eigentlich trotz ihrer Businessuniform ganz rasch als einsame, dem Alkohol nicht abgeneigte Mutter und Ex-Ehefrau, durchschaubar wird.

Den Zuschauern ist beim Betreten des Theaterraums der Blick auf die Bühne mit fünf beweglichen ,Tapetenwänden‘ verstellt. Sie sind nicht nur Projektionsfläche für die Videos, sondern auch fünf sehr bewegliche Elemente, mit denen die Bühnenbildnerin und Ausstatterin  Sarah Bernardy (Kostümbild sehr gut charakterisierend und äußerst funktionell) mit entsprechenden Lichtvariationen nicht nur diverse Räume herstellen, sondern auch den Bühnenraum optimal für die Rasanz der Szenenfolge variieren und auch in die Tiefe aufreißen kann, analog dazu, dass alle ,Seminarbeteiligten‘ nicht nur in der Nacht immer mehr vom eigenen Seelen- und bisherigen Leben offenbaren, sondern vor allem ihre Abgründe offenbaren und ihre Lebensbrüche, die eher im Widerspruch zum ursprünglich dick aufgetragenen Rollenbild und zum vorgegebenen Optimierungsideal stehen, sieht man einmal vom jüngeren Mann ab, der als einzige Figur neben der Tarot Kartenlegerin, die im Laufe der Nacht verschwindet, eine ganz andere Lebenslage offenbart.

Zu spät! Zu spät! Zu spät!

Behutsam bezieht das Stück Stellung gegen den Wahn, man könne alles an Menschen optimieren, zumal bei kaum jemand Lebensbrüche ausbleiben. Das sind Idealbilder einer Machbarkeitswelt, die dem Rationalisierungswahn folgen, die meinen, jeder neue Weg sei auch ein besserer. Die Macher des Abends entgehen gekonnt der Versuchung, zu viele Fakten oder dokumentarische Erkenntnisse vorzulegen, erzählen Einstellungen gekonnt ambivalent und nie zu vordergründig positioniert, weichen in surrealen Traumsequenzen, sparsam aber äußerst gekonnt mit Videos illustriert und einem vermutlich auch der Videodesignerin zuzurechnendem Sound Design, das gekonnt zwischen immer die Hektik der Realität, dem fortschreitenden Druck und die Unumkehrbarkeit  von Gewesenem und Wirtschafts- und Lebens- und Gesellschaftsdruck symbolisierenden harten Schnitten zwischen den Tagszenen und weichen, beinahe idyllischen Übergängen in der Nacht variiert, da, wo die Menschen zum Ich-Bild gelangen, jenseits des beruflichen Rollenklischees.

Den folgenden Tagesanbruch in einer fast klassisch erscheinenden Einheit von Ort, Zeit und Handlung erleben wir genauso wie die übernächtigten Protagonisten als beinahe schmerzhaft, wobei die titelgebenden Worte beinahe zum Mantra einer aus den Fugen geratenden Gruppe und einem surrealen Traumfinale gerinnen, in dem jeder nur noch um sich und seine Abgründe zu kreisen scheint. Die Tarot Kartenlegerin bleibt verschwunden und es kommt zu handfesten Auseinandersetzungen, die uns als Opfer und Teil des Zeit- und Optimierungssystems zeigen, wobei es nahezu unmöglich scheint dem Druck zu entkommen, selbst wenn man wollte, egal ob Tod, Schwangerschaft, Erwachsensein der Kinder, Alkohol, Abnabelung oder Tod des Partners eigentlich eine Lebensvollbremsung bewirken müssten, damit man die erlittenen Traumen überhaupt verarbeiten kann. Ich ergänze mal den Theatertext um die These, dass die Coaches unter anderem auch die Neurotiker produzieren, die dann das Gesundheitssystem belasten und die Praxen von Therapeuten füllen.

Zu spät! Zu spät! Zu spät!

Aber die Lebenswendungen, die die Schauspieler erzählen und darstellen, geben eben ein sehr intensives Teilbild der Wirklichkeit in fiktiver Form, so dass wir uns als Zuschauer letztendlich gemütlich zurücklehnen können, um eine Hölle anzusehen, die, so deute ich den Beifall ebenfalls, vielen wohl nicht unbekannt war. Fast eine Ironie, dass bei dieser gelungenen Premiere die Darsteller laut Theaterleiter noch am vergangenen Tag bei einer nicht so gelungenen Generalprobe den dargestellten Stress als erlebten Theaterstress durchlitten haben und vielleicht an diesem Abend deswegen umso glaubwürdiger waren…..

Am Ende ist wieder Anfang, der erfahrene Geschäftsmann betritt genauso die Bühne wie die Schwangere und die Geschäftsfrau im Kostüm. Man erkennt sich wieder, es sind wohl ein paar Jahre vergangen. Nur die in der Nacht einst verschwundene Tarot Kartenlegerin ohne Lebensperspektive, die wohl ebenso wenig Coach war wie der schüchterne junge Mann, scheinen sich verändert zu haben. Sie im gleichen Outfit wie bei ihrem Verschwinden, aber jetzt mit dem rosa Utensilienarbeitstoolkoffer wie vormals die Schwangere und der junge Mann im knallroten Selbstbewußtsein nur so markierenden Sakko mit dem Pilotenkoffer des älteren Mannes, scheinen sich zu den Coaches der Coaches aufgeschwungen zu haben. Waren sie einst unbemerkte Leiter des Seminars oder sind sie es jetzt. Das ist wunderbar, dass die Ambivalenzen und Surrealitäten von Inszenierung und Stück Assoziationsräume aufreißen und Interpretationsspielräume lassen.

Zu spät! Zu spät! Zu spät!

Bleibt zu erwähnen, dass das Stück auch in Bochum und Münster zu sehen sein wird, dass es vielleicht auch eine spannende Grundlage für die Diskussion und Arbeit in Betrieben sein könnte, die ein wenig humaner mit ihrem Humankapital umgehen, und wohl wissen, dass Selbstoptimierung und Strukturoptimierung nichts grundsätzlich Verwerfliches sind, aber der Wahn, immer anders als immer besser zu verkaufen oder sich und die Menschen um sich mit viel heißer Luft zu benebeln, nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen führt, und der Faktor Leben alles sowieso anders gestaltet und zweitens als man denkt. Dem TiB sei in seinem dreißigsten Jahr nach zwei wunderleichten Komödien nicht nur für ein eher ernstes, sehr bedenkenswertes Stück Theater zu danken, sondern dafür, dass sie einmal mehr der Gegenwartsdramatik treu bleiben und als Uraufführungstheater einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Man sollte unbedingt dem Beispiel der Premierengäste folgen und eine eifrige Diskussion mit dem Besuch verbinden.

Weiter Informationen zur Konzeption unter http://www.alleszuspaet.de/Alles_zu_spaet/Aktuell.html. Dort finden sich auch die weiteren Termine. Die fast logische Konsequenz wäre dann die Woyzeck Premiere im TiB im nächsten Jahr nach dem Motto: Erzählen wir nun von der Hölle eines Mannes, der sozusagen unter alle Räder zu kommen scheint, obwohl er versucht, sich mit aller Kraft gegen den eigenen Untergang und das eigene Scheitern zu stemmen. Diskussionen natürlich auch in der facebook-Gruppe Theater in Köln.

Ach so und natürlich gab es am Ende wieder Rosen vom Theaterleiter Gerhard Haag…..