Archive für Beiträge mit Schlagwort: Telefonnummern und Notizen erwähnt. Ein Vorstoß des Vaters
Stehe ich am Ufer des Flusses. Wenn ja, dann muß ich auch ein Feuer schüren und nicht warten,bis mir jemand die Streichhölzer wegnimmt. Wir haben zu lange gewartet. Warten ist tödlich, auch wenn man dabei noch lebt.

Max von der Grün

2012-08-03 01.19.23

Papa auf den Straßen ist KriegMontagmorgen in der westdeutschen Großstadt. Die Menschen hasteten achtlos an dem großen
tristen SPIELPLATZ vorbei. Asche, Staub und Steine. Alibi auf Kosten der Kinder. Keinem fiel auf, daß
die Farbe noch frisch war. Alle sahen das schon wieder verschmierte Hakenkreuz.

Schon wieder?
War das gestern abend auch schon da?
Warum tut nur keiner was?
Schweine!
Immer schmieren sie alles voll.

Aber keiner kümmerte sich wirklich um den neuen WANDSCHMUCK. Erst Mittags wurde die Leiche
gefunden. Es war heiß. Zwei Kinder hatten den JUNGEN MANN aus dem Gebüsch gezerrt.

Ernst Müller. 18 Jahre. Klasse 12 des Albertus-Magnus-Gymnasiums. Vater: Sozialdemokrat (63).

Ernst war ein Nachkömmling. Die Mutter hatte er mit 13 Jahren verloren. Der Vater war beruflich und
gesellschaftlich stark beansprucht. Der Junge war immer schmächtig und schüchtern gewesen. Er
hatte Kontakt gesucht – Fußballplatz. Stadion. Fanclub. Saufen. Schlägerei. – Und schließlich hatte er
Anschluß gefunden, bei den SKINHEADS.

Die deutsche Opposition sind wir!
Die jungen Kämpfer der deutschnationalen Front.

Aber da kannte er schon Dr. Schmitz.

Wer dazugehörte, besaß Doc-Martens-Schuhe. Schnürstiefel mit Stahlkappen. Er gehörte seit 1995
dazu. Damals wurde er gerade 16. Jahre alt. Durch Umzug und Schulwechsel war manches
durcheinandergeraten. In den Doc-Martens-Schuhe konnte man sich stark fühlen, besonders wenn
man mit den Kameraden zusammen war und wenn es was zu saufen gab.

Die Wirklichkeit wird zum Klischee, das keinen mehr interessiert.

Der junge Mensch lag auf dem Bauch.

Mensch ist der besoffen.
Der ist nicht besoffen.
Der ist tot.
Der stinkt nach Schnaps.
Der ist besoffen.
Ach Quatsch.
Der atmet nicht mehr.
Außerdem hat er das ganze Gesicht blutig.

In der Nacht vom 19. auf den 20. Juli 1997 wurde der Schüler Ernst Müller auf dem Spielplatz Ecke
Wißmannstraße/Grimmstraße totgetrampelt.

Der Express brachte eine kleine Meldung auf der viertletzten Seite. Da stand irgendetwas von Mord.

Der Vater war erschüttert. Er hatte ein gutes vertrauensvolles Verhältnis zu Ernst, wie auch dessen
Schwester bestätigte. Er beobachtete mit großer Sorge in welche Kreise der Junge geriet! Er hoffte,
daß Ernst später zur Vernunft kommen würde. Aber er versuchte nachzuhelfen: Mit politischen
Vorträgen, die er dem Jungen hielt und mit Einschalten jugendpsychologischer Beratungsdienste!

Der Einfluß des Lehrers war stärker. Ernst war nie gut in der Schule, aber als er in der 9. Heider als
Klassenlehrer bekam, wurden seine Leistungen katastrophal. Nur in Deutsch und Geschichte war
das anders. Dr. Schmitz (35) mit Bürstenhaarschnitt und dicker Hornbrille war in Ordnung. Der
konnte erzählen. Der hatte wenigstens Mut. Der war bereit, auch mal unbequeme Sachen gegen die
Ökos und den Staat zu sagen.

Alle Grünen sind Verbrecher und Lügner!
Auschwitz ist eine Erfindung der Amerikaner.
Mit Deutschland geht es steil bergab.
Bei einer Erschießung der Grünen und der PDS übernehme ich das Exekutionskomando.

Ernst und sein Freund Rudi waren die einzigen gewesen, die Interesse für den Wettbewerb der
DEUTSCHNATIONALEN FRONT geäußert hatten. Das Thema des Aufsatzwettbewerbs ALLTAG IM
TAUSENDJÄHRIGEN (!?) REICH hatte Ernst fasziniert, aber erst nachdem er sich durch die Literatur
gefressen hatte, die ihm Dr. Schmitz zur Verfügung stellte. Und jetzt stand er auf der Bühne und hörte
blechern seinen Namen…

erster Preis…traditionsbewußte, konservative Grundhaltung…Verständis für Geschichte und
Zeitgeist…

Dr. Schmitz stand neben Ernst und legte ihm die Hand auf die Schulter. Als sie sich spät am Abend
verabschiedeten, lud ihn Dr. Schmitz ein, in die Jugendgruppe zu kommen.

Ich weiß noch nicht.
Also dann bis morgen.

Ernst ging hin.

Wenn sie getrunken hatten, wenn sie über die zu vernichtenden Feinde schwadronierten, dann
fühlten sie sich als die Herren über Leben und Tod. Parolen, Gedichte, Lieder, Witze…

…wie entfernt man die Türken aus Ehrenfeld.
Durch den Kamin des Helios-Turm.

Das war von Ernst. Ernst wurde in der Organisation Beauftragter für Propaganda im Gau Rheinland.
Als Ordner in einem Lager der WOTAN-Jugend lernte er Erwin kennen. Erwin war Skinhead.

Olivgrüne Bomberjacke, orangefarbenes Futter, hochgekrempelte “DOMESTO-JEANS” (mit scharfem
Reinigungsmittel bleichgefleckt) und eben die Doc-Martens-Schuhe.

Ernst wurde ein Skinhead.
Freunde statt Bekannte.
Endlich ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Mutproben steigerten das Selbstwertgefühl,
befriedigten Rachegelüste,
schädigten die Bonzen
und brachten vor allem gute Laune.

Bei einer Kundgebung in Hannover geriet Ernst in seine erste Schlägerei mit Gegendemonstranten.

Gerhard Müller erinnerte sich daran, daß sein Sohn eines Tages sagte:

Papa auf den Straßen ist Krieg

Ernst war davon zugleich geängstigt und fasziniert. er nahm jetzt an paramilitärischen Übungen teil.
Es war für ihn kaum noch möglich, die Organisation zu verlassen. Zu viele kleine kriminelle Aktionen
galt es als Geheimnis zu bewahren. Pfingsten 1997 wurde Ernst dann in den engen Zirkel
aufgenommen. Er wurde geweiht und brach zusammen.

Als Dr. Schmitz ihm drei Wochen später im Konferenzzimmer  das Videoband mit der durch Schmitz
vollzogenen Weihe vorführte, wurde Ernst erneut ohnmächtig. Dr. Schmitz äußerte dem Arzt
gegenüber die Vermutung, daß der Junge wohl einen Schwächeanfall wegen des Schulstresses
erlitten habe.

Ein Brief kam. Die Versetzung ist gefährdet

In den Akten der Staatsanwaltschaft Köln fand sich Ende Juli 1997 eine Aktennotiz, die darauf
verwies, daß zwei wichtige Beweismittel aus dem Polizeipräsidium verschwunden waren. Ernst
hatte in seiner Aussage vom 10. Juli 1997 ein Videoband seiner Vergewaltigung und ein Notizbuch
mit Adressen, Telefonnummern und Notizen erwähnt. Ein Vorstoß des Vaters, die Deutschnationale
Front zu verbieten scheiterte. In seinem Schreiben teile der Innenminister dem Kölner Genossen
Gerhard Müller mit, daß es sich bei der genannten Gruppierung nach Angaben des Bundesamtes
für Verfassungsschutz nicht um eine extremistische Vereinigung handelte. Das war Ende Mai. Anfang
Juni fand der Prozeß gegen Dr. Schmitz wegen Volksverhetzung und Beleidigung statt. Zugrunde lag
eine Anzeige der GEW.

Es besteht die Vermutung, daß der Angeklagte aufgrund mächtiger, im Hintergrund gebliebener
Fürsprecher unantastbar blieb.

Das Gericht bezeichnete den Weg des PÄDAGOGEN als erstaunlich. Schmitz hatte in nur sieben
Jahren alle Beförderungsstufen vom Assesor zum Studiendirektor durchlaufen. Negative dienstliche
Beurteilungen aus den Jahren 1986 und 1988 waren aus der Personalakte im Düsseldorfer
Kultusministeriums verschwunden.

Der Prozeß fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Die Ermittlungsverfahren gegen eine
Senatorin und einen Bundesminister wegen Urkundenunterdrückung wurden Mitte Juni bereits
wieder eingestellt.

Der Vater von Ernst hatte mit seiner Anzeige alles ins Rollen gebracht.
Ernst reagierte entsetzt:
Papa, das ist Wahnsinn.
Die werden sich rächen.

Viermal hat die politische Polizei das Zimmer von Ernst Müller (persönliche Angaben unter AZ
2345-7685932-FRG-345/45) durchsucht. Es wurden Ordner mit Schriften aus dem III Reich,
Parteiabzeichen der verbotenen NSDAP, Sprühdosen und Waffen gefunden.

Am 8. Juli mußte Ernst zum Rapport. Dr. Schmitz warnte zum ersten und zum letzten Mal. Er drohte
mit Konsequenzen.

Als Gerhard Müller am 10. Juli nach einer Parteiveranstaltung nach Hause kam, lag Ernst zu Hause
auf dem Sofa und weinte. Der Vater setzte sich neben ihn und strich ihm mit der Hand immer wieder
über die kurzen Haarstoppeln – immer wieder, denn der Junge hatte ein Bedürfnis danach. Aber
warum er weinte, wollte er nicht sagen.

Erst viel später erfuhr Gerhard Müller von der Aussage, die Ernst morgens bei der Kriminalpolizei
gemacht hatte. Am 21 Juli unterschrieb der Vater von Ernst das letzte Protokoll bei der Kripo:

Am Samstagabend kurz vor acht ist Ernst für wenige Minuten nach Hause gekommen. Sein rechtes
Auge war blaugeschlagen und geschlossen gewesen. Ernst hat erklärt: Das waren Punks.

Es war das letzte Mal, daß Gerhard Müller seinen Sohn sah.

Am 19. Juli 1987 gegen 23.30 Uhr überfielen vier Skinheads Ernst auf der Körnerstraße. Später war
nicht zu ermitteln, wer den Auftrag gegeben hatte.

Jetzt machen wir ihn richtig alle.

Als Ernst noch wegzulaufen versuchte, fielen die vier Kameraden, alle etwas älter und wesentlich
kräftiger als er, gemeinsam über Ernst her und traten ihn. Zwei von den Skinheads hatten
Doc-Martens-Schuhe.

Als die vier Kameraden verhaftet wurden, beteuerten sie immer wieder, daß sie besoffen gewesen
waren.
Keiner wußte wie es passiert war.
Plötzlich war er tot. Die Anklage lautete auf Körperverletzung mit Todesfolge.
Dr. Schmitz hatte sich von der Tat distanziert.
Von einer DEUTSCHNATIONALEN FRONT war beim Prozeß nicht mehr die Rede.

veröffentlicht Februar 1988
Die Rechtschreibung entspricht dem damaligen Stand.